Sehnsucht und Distanz

Über das Buch Ulrich Pietzsch  „Der kleine Wadenbeißer Eine Kindheit zwischen Oberwartha und Dresden“, Husum-Verlag

…Auch wenn sich bei der Lektüre zwei Dinge herausstellen, erstens, dass  Ulrich Pietzsch den Spitznamen wegen realer Taten bekommen hat. Das erste Opfer war seine Mutter. Und zweitens, dass der in Kukate lebende Maler ein Bild seiner Kindheit in Oberwartha bei Dresden zeichnet, das eine Zeit – ab Mitte der 30er Jahre – vor Augen führt, die in vielem problematisch war, für ein Kind aber ganz eigene Reize gehabt haben muss…Aber auch wenn er nicht der ansprechendste ist – der Titel des Buches entspricht dann doch dem Charakter des Autoren, der es in seinem Leben wohl eher selten auf  Komplimente angelegt hat. In seiner Kunst nicht, die sich systematisch den gängigen Maximen dessen, was heute aktuell ist, verweigert – wobei viele ältere Fragen zur Geste erstarrt oder viele  aktuelle Tendenzen Hype sind. Dass Pietzsch selbstbewusst auf seinen Bildern von heilen Welten in naivem Stil beharrt – und ihr Potenzial aufzeigt – ist jedenfalls eine nachvollziehbare Position, die auch auf blinde Stellen aktuellen Kunstschaffens weist.  Und manche  Reaktion lässt denken, dass in ihrer Vehemenz nicht mehr und unguteres zum Ausdruck kommt als Kritik.

Naive Bilder von heilen welten sind auch in der Kindheitsbiografie von Ulrich Pietzsch bestimmend. Sehsucht ist daraus zu lesen, aber auch Distanz, die aus Beobachtung erwächst. Dire schwächsten Stellen des Buches sind die, in denen  diese Distanz ohne Not aufgegeben wird, etwa wenn der Text in sächsischen Dialekt verfällt, vielleicht eher ein Hybrid aus Hochsprache und Dialekt. Doch grosso modo zeichnet das Buch ein „Gesellschaftsbild, das der kindlichen Realität entspricht und gleichzeitig weit über sie hinausgreift“, wie es die mit Pietzsch befreundete Autorin Irene Bartsch (Pseudonym: Irene Böhme; „Die  Buchhändlerin“) in einem Brief an ihn ausdrückt.

Zur kindlichen Realität, die  der 1937 geborene Ulrich Pietzsch beschreibt, gehören auch die beiden Totalitarismen der deutschen Geschichte im 20.Jahrhundert. Was der Autor „vollkommen unaufgeregt“(Bartsch) vom Leben seiner Eltern berichtet, macht deutlich, dass dem NS-Regime wie viele Deutsche einen sozialen Aufstieg verdankten, und dass sie dazu wie die große Mehrheit mit den Verhältnissen mindestens einverstanden waren, sie weitgehend unterstützten. Was das angeht, meint Bartsch,  lüge  Pietzsch sich anders als viele andere „nicht in die eigene Tasche“. In den Vordergrund stellt das Buch diese Kehrseite des Idylls genauso wenig wie andere, wie das Bombardement Dresdens 1945 oder die beginnende SED-Diktatur. Was wohl dem entspricht, wie das Kind die Zeit erlebt hat. Zugleich ein Versuch ist, auf dem schmalen Grat zwischen Verschweigen und Verteufeln zu wandern, niht einfach, wenn es um die eigenen Eltern geht. Ist er gelungen? Es wird verschiedene Antworten auf diese Frage geben.

tj

Elbe-Jeetzel-Zeitung  16.06 2015

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